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Xenofeminism
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Xenofeminismus

Eine Politik für die Entfremdung

Laboria Cuboniks

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Unsere Wirklichkeit ist eine zunehmend schwindelerregende. Abstraktion, Virtualität und Komplexität sind untrennbar in unsere täglichen Leben verwickelt, was einen Feminismus erfordert, der an diese Realitäten angepasst ist; ein Feminismus von nie da gewesener Gerissenheit, Dimension und Vision. Wir wünschen uns eine Zukunft, in der die Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit und feministischer Emanzipation ein universeller Zustand ist, der sich aus den Bedürfnissen aller Menschen zusammenfügt, unabhängig von Rassifizierung, Befühigung, ökonomischem Stand oder geographischem Ort. Wir weigern uns, die zukunftslose Wiederholung der Gegenwart zu akzeptieren, die von Kapital, Staat und der trostlosen Tretmühle der Reproduktionsarbeit umgrenzt wird. XF ist kein Revolutionsgesuch, sondern eine geschickte Wette um das lange Spiel der Geschichte, das der Vorstellungskraft und Beharrlichkeit bedarf.

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Anstatt in dem beschränkten Bereich der mikropolitischen Intervention zu verharren oder in vereinfachenden Fantasien von einer Rückkehr in eine idealisierte «natürliche Authentizität» zu schmachten, begreift Xenofeminismus die Entfremdung als erzeugenden Anstoß. Wir sind alle entfremdet. War das jemals anders? Wegen – und nicht trotz – unserer entfremdeten Situation können wir uns vom Schmodder der Unmittelbarkeit befreien. Freiheit ist nichts Gegebenes und ganz sicher keine «natürliche» Gegebenheit. Entfremdung ist eine Wirkung und Funktion der Möglichkeit, Freiheit aufzubauen. Das «Gegebene» ist beweglich. Nichts ist starr. Alles ist für radikale Veränderung empfänglich – materielle Bedingungen ebenso wie gesellschaftliche Formen. Der bewegliche Boden von XF bedingt eine pragmatische, semi-poröse Ontologie, in der die intellektuelle Sklerose der Akademie und der Stillstand von Kritik ersetzt werden durch Mutation, Navigation und das Erproben von Horizonten. Die Queers und die Trans*-Menschen unter uns, sowie jene, die aufgrund von Schwangerschaft oder Pflichten in Verbindung mit dem Großziehen von Kindern diskriminiert worden sind, (von der Gesellschaft) behinderte Menschen und alle, die angesichts der herrschenden biologischen Normen für «unnatürlich» gehalten werden, haben Ungerechtigkeiten im Namen der natürlichen Ordnung erlebt. XF ist vehement anti-naturalistisch. Essentialistischer Naturalismus ist nichts als ein kruder theologischer Kater – und je früher er ausgetrieben wird, desto besser.

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Seit dem vorzeitigen Niedergang des Cyberfeminismus hat es wenig ausdrückliche, organisierte Bemühungen gegeben, Technologien für fortschrittliche geschlechter-politische Zwecke umzunutzen. XF macht auf diese Lücke aufmerksam und ruft zur strategischen Nutzung bestehender Technologien für eine Umgestaltung der Welt unter den gegebenen Umständen auf. Dies geschieht jedoch nicht ohne Vorbehalt. Die von uns angerufenen Verfahren beinhalten ernsthafte Risiken; gewiss sind sie anfällig für Ungleichgewicht, Missbrauch und Ausbeutung der Schwachen. Xenofeminismus erfordert die Herstellung erweiterter politischer Schnittstellen zwischen Technologien und ihrer den Risiken entsprechenden Nutzung, lehnt aber kategorisch die noch größere Gefahr ab, vermeintlich nichts zu riskieren. Technik ist nie inhärent fortschrittlich; ihre Anwendungen sind in einer positiven Rückkopplungsschleife des wechselseitigen Einflusses mit Kultur verschmolzen, die die lineare Sequenzierung verweigert. Dass die technowissenschaftliche Innovation durch ein andauerndes Programm der kollektiven, epistemologischen und politischen Entwicklung bedingt sein muss, in der Frauen, queere Menschen und die Geschlechtsunkonformen eine unersetzliche Rolle spielen, erklären wir zur grundlegenden Notwendigkeit.

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Das wahre emanzipatorische Potenzial von Technik bleibt unrealisiert. Statt der endlosen Vermehrung technischer Spielereien liegt die eigentliche Aufgabe in der Entwicklung von Technologien, die den ungleichen Zugang zu reproduktiven und pharmakologischen Werkzeugen, ökologische Katastrophen, ökonomische Instabilität sowie gefährliche Formen der unbezahlten/unterbezahlten Arbeit bekämpfen können. Die Bereiche, in denen unsere Technologien erdacht, gebaut und gesetzlich eingebunden werden, zeichnen sich noch immer durch Geschlechterungleichheit aus, Arbeiterinnen in der Elektronik (um nur eine Industrie zu nennen) führen einige der schlechtbezahltesten, monotonsten und belastendsten Arbeiten aus. Solche Ungerechtigkeit erfordert strukturelle, maschinelle und ideologische Korrekturen.

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Xenofeminismus ist ein Rationalismus. Wir lehnen die These ab, der zufolge Vernunft oder Rationalität «von Natur aus» ein ausschließlich patriarchales Unterfangen ist und sein kann. Nicht trotz der historischen Verknüpfung von Rationalität mit Männlichkeit, sondern wegen dieses elenden Ungleichgewichts, muss Feminismus ein Rationalismus sein. Wir weigern uns, daran zu glauben, dass Naturwissenschaften ein Ausdruck statt ein Aussetzen von Geschlecht bedeuten. Wenn die bestehende TechnoWissenschaft von männlichen Egos dominiert wird, dann steht sie im Widerspruch zu sich selbst, und dieser Widerspruch kann wirksam eingesetzt werden. Durch den Anspruch auf Vernunft als Motor der feministischen Emanzipation des einundzwanzigsten Jahrhunderts erklärt Xenofeminismus das Recht für alle, als niemand Bestimmtes zu sprechen.

Unterbrechen

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Der Exzess der Bescheidenheit in feministischen Agenden der vergangenen Jahrzehnte steht in keinem Verhältnis zu der monströsen Komplexität unserer Wirklichkeit, ihren Überschneidungen mit Glasfaserkabeln, Radio- und Mikrowellen, Öl- und Gas-Pipelines, Luft- und Schifffahrtsrouten sowie der unablässigen, gleichzeitigen Ausführung von Millionen von Kommunikationsprotokollen mit jeder vergehenden Millisekunde. Zugunsten von zwar bewundernswerten, jedoch nicht ausreichenden Kämpfen, die an lokal begrenzte und vereinzelte Aufstände gebunden sind, sind systemisches Denken und strukturelle Analyse weitgehend auf der Strecke geblieben. Während Kapitalismus als komplexe und stetig wachsende Totalität verstanden wird, bleiben viele angeblich emanzipatorische, antikapitalistische Projekte zutiefst ängstlich vor einem Sprung ins Universelle und lehnen spekulative Politiken des großen Ganzen als «notwendigerweise» unterdrückende Vektoren ab. Solch eine falsche Gewissheit behandelt Universalien als absolut, was zwischen dem, was wir entthronen wollen und den Strategien, die wir dafür vorbringen, einen kräftezehrenden Riss erzeugt.

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Globale Komplexität öffnet uns für dringende kognitive und ethische Anforderungen. Dies sind Prometheische Verantwortungen, denen wir uns stellen müssen. Große Teile des Feminismus im einundzwanzigsten Jahrhundert – von den Überbleibseln postmoderner Identitätspolitiken bis zu großen Teilen des zeitgenössischen Ökofeminismus – haben Schwierigkeiten, diese Herausforderungen auf eine Weise anzugehen, die substanzielle, andauernde Veränderung hervorbringen kann. Xenofeminismus will sich diesen Verpflichtungen stellen, und zwar als kollektive Akteur_innen, die sich zwischen mehreren Ebenen der politischen, materiellen und konzeptuellen Organisation bewegen können.

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Wir sind entschieden synthetisch, unbefriedigt von bloßer Analyse allein. XF fordert eine konstruktive Schwingung zwischen Beschreibung und Vorschreibung, um das rekursive Potenzial zeitgenössischer Technologien auf Geschlechter, Sexualitäten und Machtungleichheiten zu mobilisieren. Angesichts einer Reihe von vergeschlechtlichten Herausforderungen, die speziell mit dem Leben im digitalen Zeitalter zusammenhängen – sexuelle Belästigung in sozialen Medien, Doxing, Privatsphäre und Bildschutz – brauchen wir einen Feminismus, der sich mit Computern wohlfühlt. Heute müssen wir eine ideologische Infrastruktur entwickeln, die feministische Interventionen innerhalb der verbundenen, vernetzten Elemente der gegenwärtigen Welt unterstützt und ermöglicht. Xenofeminismus handelt von mehr als digitaler Selbstverteidigung und der Freiheit von patriarchalen Netzwerken. Wir machen die Ausübung eines positiven «Freiheit-zu» statt einer einfachen «Freiheit-von» geltend und drängen Feminist_innen dazu, sich selbst mit den Fähigkeiten auszustatten, bestehende Technologien umzunutzen und neuartige kognitive und materielle Werkzeuge im Dienste gemeinsamer Ziele zu erfinden.

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Die radikalen Möglichkeiten, die durch das Entwickeln (und Entfremden) von Formen der technologischen Mediation geschaffen werden und von denen mit Absicht nur wenige profitieren, sollten nicht länger dem bloßen Interesse des Kapitals zunutze kommen. Die Werkzeuge, die es sich anzueignen gilt, vermehren sich unablässig, und obwohl niemand deren umfassende Zugänglichkeit behaupten kann, waren digitale Werkzeuge nie breiter verfügbar oder leichter anzueignen als heute. Dies ist keine Unterschlagung der Tatsache, dass ein Großteil der Armen der Welt nachteilig von der expandierenden Technikindustrie betroffen ist (von den Foxconn-Arbeiter_innen, die unter furchtbaren Bedingungen IT zusammensetzen, bis zu den Dörfern in Ghana, die zur Elektroschrottdeponie der Ersten Welt geworden sind), sondern eine ausdrückliche Anerkennung dieser Situationen mit dem Ziel ihrer Abschaffung. So wie die Erfindung des Aktienmarktes auch den Börsensturz erfand, weiß XF, dass technologische Innovation gleichsam ihre systemischen Implikationen vorhersehen und für entsprechende Konsequenzen vorsorgen muss.

Einfangen

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XF verweigert sich den politischen Hemmstoffen der Illusion und der Melancholie. Illusion, also die verblendete Annahme, dass die Schwachen sich ohne eine strategische Koordinierung gegen die Starken durchsetzen könnten, führt zu unerfüllten Versprechen und desorganisierten Aktionen. Eine solche Politik mündet darin, bei so viel Gewolltem schlussendlich nur sehr wenig aufzubauen. Ohne die Arbeit der groß angelegten, kollektiven gesellschaftlichen Organisierung, ist die Erklärung des eigenen Begehrens für globale Veränderung nichts weiter als ein Wunschdenken. Die – in der Linken so weit verbreitete – Melancholie wiederum lehrt uns, dass Emanzipation eine ausgestorbene Spezies ist, der wir hinterher weinen mögen, dass situative, kontextbezogene Kritik aber das Beste ist, worauf wir hoffen können. Im schlimmsten Fall erzeugt eine solche Haltung nichts als politische Trägheit und im besten Fall schafft sie eine Atmosphäre der um sich greifenden Verzweiflung, die ja allzu oft zu internen Querelen und kleinlichem Moralismus führt. Das Übel der Melancholie verschlimmert die politische Unbeweglichkeit und gibt – unter dem Vorwand, realistisch zu sein – jede Hoffnung darauf auf, die Welt anders zu kalibrieren. Xenofeminismus weigert sich zu trauern.

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Für uns sind Politiken ganz und gar unzureichend, die unter dem Banner der Subversion von Strömungen der globalen Abstraktion das gänzlich Lokale aufwerten. Sich von der kapitalistischen Maschinerie los zu machen oder sich von ihr zu distanzieren, wird sie nicht verschwinden lassen. Ebenso sind die Vorschläge, die Notbremse der vorgegebenen Geschwindigkeiten zu ziehen, oder der Aufruf, langsamer zu machen und zurück zu schrauben, nur Wenigen als Möglichkeiten zugänglich. Sie sind eine gewaltvolle Besonderheit der Exklusivität und beinhalten schließlich die Katastrophe für viele. Die Weigerung, über die Mikrogemeinschaft hinaus zu denken, Verbindungen zwischen vereinzelten Auflehnungen herzustellen und darüber nachzudenken, wie emanzipatorische Taktiken für ihren universellen Einsatz erweitert werden können, bedeutet, mit vorübergehenden und defensiven Gesten zufrieden zu sein. XF dagegen ist eine affirmative Kreatur in der Offensive, die heftig auf der Möglichkeit großangelegter gesellschaftlicher Veränderung beharrt, für unsere ganze systemfremde Verwandtschaft [alien kin].

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Die gegenwärtigen queeren und feministischen Politiken scheinen das Gefühl für die Flüchtigkeit und Künstlichkeit der Welt verloren zu haben, zugunsten einer pluralen aber statischen Konstellation von Geschlechtsidentitäten, in deren Licht die öde Gleichsetzung des Guten mit dem Natürlichen stur wiederhergestellt wird. Während wir (vielleicht) bewundernswerter Weise die Grenzen der «Toleranz» erweitert haben, werden wir allzu oft dazu aufgefordert, in Unfreiheit Trost zu suchen, Ansprüche damit abzustecken, dass wir «so geboren» sind, als ob die Segnung durch die Natur eine Entschuldigung bietet. Währenddessen tuckert das heteronormative Zentrum weiter. XF fordert diesen zentrifugalen Bezugspunkt heraus, in vollem Wissen darüber, dass Geschlecht beispielhaft für den Angelpunkt zwischen Norm und Tatsache ist, zwischen Freiheit und Zwang. Diesen Angelpunkt in Richtung Natur zu kippen, ist im besten Fall ein defensives Zugeständnis und ein Rückzug von dem, was Trans*- und queere Politiken zu mehr als einer bloßen Lobby macht: dass sie eine mühsame Bejahung der Freiheit gegen eine scheinbar unveränderliche Ordnung sind. Wie in jedem Mythos des Gegebenen wird von einer stabilen Grundlage für die wirkliche Welt des Chaos, der Gewalt und des Zweifels fabuliert. Das «Gegebene» wird als Gewissheit in den privaten Bereich ausgesondert, während es sich von den Fronten der öffentlichen Konsequenzen zurückzieht. In dem Moment, als die Möglichkeit der transgeschlechtlichen Übergänge wirklich und bekannt wurde, bekam die Gruft unter dem Schrein der Natur Risse und Geschichte/n, die nach einer neuen Zukunft riefen, entflohen der alten Ordnung des «biologischen Geschlechts». Das disziplinäre Raster von Geschlecht ist zu einem nicht kleinen Teil ein Versuch, diese zerbrochene Grundlage zu flicken und jene Leben zu zähmen, die ihr entflohen sind. Nun ist die Zeit gekommen, diesen Schrein vollends einzureißen und uns nicht in einer pathetischen Entschuldigung für das bisschen gewonnene Autonomie vor ihm zu verbeugen.

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Wenn der «Cyberspace» je das Versprechen geboten hat, den Verengungen essentialistischer Identitätskategorien zu entkommen, so hat das Klima der gegenwärtigen sozialen Medien mit aller Kraft in die andere Richtung gewirkt. Sie sind ein Theater der Kniefälle vor der Identität geworden. Mit diesen choreographierten Praktiken gehen puritanische Rituale der moralischen Instandhaltung einher; und diese Bühnen werden allzu oft von den verleugneten Vergnügen der Anschuldigung, Scham und Denunziation überrannt. Wertvolle Plattformen für Verbindungen, Organisierung und Kompetenzbündelung werden mit Hindernissen gegen eine produktive Debatte verbaut, die so gesetzt werden als seien sie Debatte. Wir verurteilen diese puritanischen Politiken der Scham, die Unterdrückung zum Fetisch machen, als sei sie ein Segen, und alles in moralistischen Ekstasen verhüllen. Wir wollen weder saubere Hände noch hübsche Seelen, weder Tugend noch Terror. Wir wollen überlegene Formen der Korruption.

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Hier zeigt sich, dass das Entwickeln von Plattformen für gesellschaftliche Emanzipation und Organisation die kulturellen und memetischen Mutationen nicht ignorieren kann, die diese Plattformen bieten. Was Neugestaltung erfordert, sind die memetischen Parasiten, die auf Weisen Verhalten hervorrufen und koordinieren, die vom Selbstbild der Gastgebenden ausgeschlossen sind; gelingt dies nicht, bleiben Meme wie «Anonymität», «Ethik», «soziale Gerechtigkeit» und «Privilegien prüfen» Vektoren für soziale Dynamiken, die scharf von den löblichen Intentionen abweichen, mit denen sie ausgesprochen werden. Die Aufgabe der kollektiven Selbstmeisterung erfordert die realitäts-wirksame [hyperstitional] Manipulierung der begehrensgeleiteten, marionettenhaften Herstellung von Realität durch die Nutzung semiotischer Operatoren im gesamten Bereich der hochvernetzten kulturellen Systeme. Der Wille wird immer durch die Meme korrumpiert sein, durch die er sich bewegt, doch nichts hindert ihn daran, diese Tatsache zu instrumentalisieren und hinsichtlich der gewünschten Ziele auszurichten.

Gleichheit

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Xenofeminismus will Geschlecht abschaffen. «Geschlechterabschaffung» ist aber kein Kode für die Beseitigung dessen, was derzeit als «vergeschlechtlichte» Merkmale der menschlichen Population gilt. Im Patriarchat könnte ein solches Projekt nur eine Katastrophe bedeuten, da die Vorstellung davon, was «vergeschlechtlicht» ist, unverhältnismäßig dem Weiblichen anhaftet. Doch sogar, wenn dieses Ungleichgewicht überwunden wäre, hätten wir kein Interesse daran, die geschlechtliche Vielfalt auf der Welt zu verringern. Lasst Hunderte von Geschlechtern blühen! «Geschlechterabschaffung» ist eine Abkürzung für die Zielsetzung, eine Gesellschaft zu erschaffen, in der Eigenschaften, die derzeit unter der Rubrik Geschlecht versammelt werden, nicht länger als Raster für die asymmetrische Wirkweise von Macht dienen. Die «Abschaffung von Rassifizierung» folgt dann einer ähnlichen Formel – dass der Kampf weitergehen muss, bis derzeit rassifizierte Merkmale nicht mehr Bedeutung erhalten als die Augenfarbe. Schließlich muss sich jeder emanzipatorische Abolitionismus der Abschaffung von Klassen zuwenden, da uns Unterdrückung im Kapitalismus in ihrer transparenten, denaturalisierten Form begegnet: Du wirst nicht ausgebeutet oder unterdrückt, weil Du lohnarbeitest oder arm bist; Du bist lohnarbeitend oder arm, weil Du ausgebeutet wirst.

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Xenofeminismus hält die Brauchbarkeit emanzipatorischer abolitionistischer Projekte – die Abschaffung von Klasse, Vergeschlechtlichung und Rassifizierung – für absolut abhängig von einer grundlegenden Neugestaltung des Universellen. Das Universelle muss als generisch begriffen werden und somit als intersektional. Intersektionalität ist nicht die Zerstückelung von Kollektiven in ein Flimmern [static fuzz] aus aufeinander bezogenen Identitäten, sondern eine politische Orientierung, die alles Spezifische durchschneidet und das grobe Einordnen von Körpern in Schubladen verweigert. Diese nicht absolute, generische Universalität muss sich der vereinfachten Tendenz verwehren, mit aufgeblähten, unmarkierten Spezifika zu verschmelzen – wie im eurozentrischen Universalismus ?, in denen das Männliche als geschlechtslos missverstanden wird, Weißsein als unrassifiziert, Cis-Geschlechtlichkeit als echt, und so weiter. Solange ein solches Konzept von Universalität fehlt, wird die Abschaffung von Klasse immer eine bürgerliche Fantasie bleiben, die Abschaffung von Rassifizierung eine unausgesprochene Strategie der weißen Vorherrschaft und die Abschaffung von Geschlecht wird eine leicht verschleierte Frauenfeindlichkeit bleiben, sogar – und besonders – wenn sie von ausgesprochenen Feminist_innen betrieben wird. (Das absurde und rücksichtslose Spektakel der Kampagne gegen Trans*-Frauen durch so viele selbsternannte «Geschlechterabolitionist_innen» bietet hiervon Zeugnis genug.)

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Von den Postmodernen haben wir gelernt, die Fassaden der falschen Universalien zu verbrennen und solche Verwirrungen zu beseitigen; von den Modernen haben wir gelernt, neue Universalien aus der Asche der falschen heraus zu sieben. Xenofeminismus will eine Bündnispolitik ohne die Infektion der Reinheit aufbauen. Das Universelle zu handhaben, erfordert sorgfältige Qualifizierung und vorsichtige Selbstreflexion, so dass es ein möglichst griffbereites Werkzeug für viele politische Körper werden kann und etwas, das gegen die zahlreichen Unterdrückungen, die sich mit Geschlechtern und Sexualitäten überschneiden, angewendet werden kann. Das Universelle ist keine Blaupause, und anstatt im Vorhinein dessen Nutzungen vorzugeben, schlagen wir Xenofeminismus als eine Plattform vor. Dieser Konstruktionsprozess wird somit als rastlose, iterative und kontinuierliche Neugestaltung verstanden. Xenofeminismus will eine veränderliche Architektur sein, die – wie Open-Source-Software – für fortwährende Modifizierung und Verbesserung offen bleibt, die dem steuernden Impuls einer militanten ethischen Vernunft folgt. Offen heißt jedoch nicht ohne Richtung. Die beständigsten Strukturen der Welt verdanken ihre Stabilität ihrer Einübung von Ordnung, aus der sie dann als «unsichtbare Hand» scheinbar spontan hervorgehen, oder mit der sie die Schwerfälligkeit von Investition und Sedimentierung auszunutzen wissen. Wir sollten nicht zögern, von unseren Feinden zu lernen, und Wege zu suchen, in die Geometrie der von diesen Plattformen gewährten Freiheiten Ordnung zu säen – aber eine gleichberechtigte und gerechte Ordnung.

Justieren

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In unserer Öffnung zur Freiheit, unserer Erweiterung unseres Geschlechts und des Menschlichen, haben wir entschieden, unser Schicksal mit der TechnoWissenschaft zu teilen, für die nichts so heilig ist, dass es nicht technisch umgestaltet und verändert werden könnte. Zu sagen, dass nichts heilig ist, dass nichts transzendent ist oder vor dem Willen zu wissen, zu basteln oder zu hacken geschützt ist, bedeutet, dass nichts übernatürlich ist. «Natur» – hier als die grenzenlose Arena der Naturwissenschaften verstanden – ist alles, was es gibt. Im Niederreißen von Melancholie und Illusion; von Anspruchslosem und Nicht-Skalierbarem; von libidinösem Puritanismus gewisser Online-Kulturen und von Natur als einer nicht wieder erschaffbaren Gegebenheit stellt sich heraus, dass unser normativer Anti-Naturalismus uns in Richtung eines unverzagten ontologischen Naturalismus getrieben hat. Wir behaupten, dass es nichts gibt, das nicht naturwissenschaftlich erforscht und technologisch verändert werden kann.

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Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Unterscheidung zwischen dem Ontologischen und dem Normativen, zwischen Tatsache und Wert, einfach festgelegt ist. Die Vektoren von normativem Anti-Naturalismus und ontologischem Naturalismus überspannen viele ambivalente Schlachtfelder. Das Projekt des Entwirrens dessen, was sein soll von dem, was ist, der Entkopplung von Freiheit und Tatsache, Wille und Wissen, ist tatsächlich eine unendliche Aufgabe. Es gibt viele Lücken, wo das Begehren uns mit der Brutalität des Tatsächlichen konfrontiert und wo Schönheit nicht von Wahrheit zu trennen ist. Poesie, Sex, Technologie und Schmerz glühen in dieser Spannung, der wir nachspüren. Doch gibst Du die Aufgabe der Revision auf, lockerst die Zügel und löst diese Spannung – ermatten diese Glühdrähte sofort.

Tragen

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Das Potenzial der frühen, textbasierten Internetkultur, sich den repressiven Geschlechterregimes zu widersetzen, Solidarität zwischen marginalisierten Gruppen zu erzeugen und neue Räume des Experimentierens zu erschaffen, das in den 90er Jahren den Cyberfeminismus entzündeten, ist im einundzwanzigsten Jahrhundert deutlich geschwunden. Die Dominanz des Visuellen in heutigen Online-Oberflächen enthält Räume der Interaktion, doch das bedeutet nicht, dass cyberfeministische Empfindsamkeiten der Vergangenheit angehören. Die subversiven von den unterdrückenden Möglichkeiten zu unterscheiden, die im heutigen Netz latent sind, erfordert einen Feminismus, der für die schleichende Rückkehr alter Machtstrukturen sensibel ist, aber auch gerissen genug, um deren Potenzial zu nutzen. Digitale Technologien sind untrennbar von den materiellen Realitäten, die ihnen zugrunde liegen. Sie sind so verknüpft, dass eine jede genutzt werden kann, um die andere zu verschiedenen Zwecken zu verändern. Statt für den Vorrang des Virtuellen über das Materielle oder des Materiellen über das Virtuelle zu argumentieren, greift Xenofeminismus Machtpunkte und Ohnmachtspunkte in beiden auf, um dieses Wissen als wirksame Intervention in unsere verknüpft zusammengesetzte Realität zu entfalten.

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Intervention in offensichtlich materielle Hegemonien ist ebenso entscheidend wie Intervention in digitale und kulturelle. Veränderungen der errichteten Umgebungen bergen einige der bedeutendsten Möglichkeiten in der Umgestaltung der Horizonte von Frauen und Queers. Als Verkörperung ideologischer Konstellationen sind die Herstellung von Raum und die Entscheidungen über dessen Organisierung schlussendlich Aussagen über «uns» und umgekehrt darüber, wie ein «wir» artikuliert werden kann. Mit dem Potenzial, zukünftige gesellschaftliche Bedingungen auszuschließen, zu begrenzen oder zu eröffnen, müssen sich Xenofemist_innen auf die Sprache der Architektur als Vokabular für kollektive Choreographien einstellen – für das koordinierte Schreiben von Raum.

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Von der Straße bis nach Hause darf auch der private Raum unseren interventionistischen Tentakeln nicht entkommen. Privater Raum sitzt so tief, dass es für unmöglich gehalten wird, ihn dort auszuheben, wo das Zuhause als Norm mit dem Zuhause als Tatsache verwechselt wurde, als nicht neu erschaffbare Gegebenheit. «Häuslichen Realismus» als bedeutungslos hinzustellen, hat in unserem Horizont nichts zu suchen. Lasst uns den Blick auf Wohnräume als geteilte Labore richten, auf gemeinschaftliche Medien und technische Ausstattungen; das Zuhause ist reif für räumliche Veränderung als integraler Bestandteil in jedem Prozess der feministischen Zukünftigkeit. Doch darf dies nicht am Gartentor aufhören. Wir erkennen allzu deutlich, dass die Neuerfindung von Familienstrukturen und häuslichem Leben derzeit nur zum Preis des Rückzugs aus der wirtschaftlichen Sphäre – der Weg der Kommunen – oder des Tragens der vielfältigen Belastungen – der Weg der alleinerziehenden Eltern – möglich ist. Wenn wir die Trägheit unterbrechen wollen, die die zum Scheitern verurteilte Figur der Kernfamilie an ihrem Platz hält, die so stur und unter Bestrafung von Abweichungen Frauen aus der öffentlichen Sphäre und Männer aus den Leben ihrer Kinder isoliert hat, müssen wir die materielle Infrastruktur überholen und die wirtschaftlichen Kreisläufe unterbrechen, die sie festgeschrieben halten. Vor uns liegt eine doppelte Aufgabe und unsere Sicht ist notwendigerweise stereoskopisch: Wir müssen eine Ökonomie entwickeln, die reproduktive Arbeit und Familienleben befreit, und zugleich familiäre Modelle aufbauen, die von der abstumpfenden Schinderei der Lohnarbeit frei sind.

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Vom Zuhause bis zum Körper – ist es längst überfällig, eine Politik der aktiven biotechnischen und hormonellen Interventionen zu artikulieren. Hormone hacken sich in Geschlechtersysteme und besitzen eine politische Reichweite, die über die ästhetische Kalibrierung einzelner Körper hinausgeht. Strukturell gedacht ist die Verteilung von Hormonen – die Frage, wer oder was von dieser Verteilung priorisiert oder pathologisiert wird – von oberster Wichtigkeit. Das Aufkommen des Internets und die dadurch losgelassene Hydra der illegalen Apotheken – gemeinsam mit einem öffentlich zugänglichen Archiv des endokrinologischen Knowhows – war entscheidend dafür, dass die Kontrolle über die hormonelle Ökonomie den Zugang regulierenden Institutionen abgerungen werden konnte, die danach streben, Bedrohungen der etablierten Verteilungen des Geschlechtlichen einzudämmen. Die Herrschaft des Marktes gegen die Herrschaft der Bürokraten einzutauschen, ist jedoch kein Sieg an sich. Die Fluten müssen höher steigen. Wir fragen uns, ob der Ausdruck des «gender hacking» in eine langfristigere Strategie erweiterbar ist, eine Strategie für das menschliche Gehirn [wetware], die dem ähnelt, was die Hacking-Kultur bereits für die Software getan hat – der Aufbau eines ganzen Universums aus Free-Software und Open-Source Plattformen, die wohl für viele von uns einem praktikablen Kommunismus am nächsten kommen. Können wir die unausgereiften Versprechen von pharmazeutischem 3D-Printing («Reactionware»), telemedizinischen Grassroot-Abtreibungskliniken, geschlechter-hacktivistischen Foren und DIY-Habit-Reversal-Trainings etc. ohne die törichte Gefährdung von Leben miteinander verknüpfen, um eine Plattform für eine frei zugängliche und offen gestaltete Medizin zusammenzustellen? XF begrüßt das Schmieden solcher institutionalisierter (Infra)Strukturen.

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Vom Globalen zum Lokalen, von der Cloud zu unseren Körpern, steht Xenofeminismus für die Verantwortlichkeit ein, die im Aufbau neuer Institutionen von techno-materialistischen, hegemonialen Dimensionen liegt. Wie Ingenieur_innen müssen wir die Gesamtstrukturen ebenso begreifen wie die molekularen Teile, aus denen sie bestehen. XF betont die Wichtigkeit der mesopolitischen Sphäre gegenüber der begrenzten Wirksamkeit lokaler Gesten, der Schaffung autonomer Zonen und bloßem Horizontalismus; ebenso wie er gegen transzendentale oder Top-Down-Vorschriften von Werten und Normen steht. Die mesopolitische Arena der universalistischen Ziele von Xenofeminismus begreift sich selbst als mobiles und verworrenes Netzwerk von Übergängen zwischen diesen Polen. Als Pragmatiker_innen begrüßen wir Kontaminierung als Mutationsantrieb zwischen solchen Grenzen.

Überschwemmung

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XF bejaht, dass die Anpassung unseres Verhaltens an ein Zeitalter der Prometheischen Komplexität eine Arbeit ist, die Geduld erfordert – doch ist das eine grimmige Geduld, die nichts mit «Warten» zu tun hat. Eine politische Hegemonie oder ein aufständisches Memplex zu kalibrieren, beinhaltet nicht nur die Schaffung materieller (Infra)Strukturen, um die artikulierten Werte explizit zu machen, sondern stellt auch Anforderungen an uns als Subjekte: etwa, wie wir diese neue Welt ausrichten können. Wie bauen wir einen besseren semiotischen Parasiten – einen, der die Begehren weckt, die wir begehren wollen, der keine autophagische Orgie der Unwürdigkeit und Raserei einfädelt, sondern eine emanzipatorische und egalitäre Gemeinschaft, die von neuen Formen der uneigennützigen Solidarität und der kollektiven Selbstmeisterung gestützt wird.

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Ist Xenofeminismus ein Programm? Nicht, wenn das irgendetwas so krudes wie ein Rezept oder ein Einzweckwerkzeug meint, mit dem ein vorbestimmtes Problem gelöst werden soll. Wir ziehen es vor, verschwörerisch und wie Lisp-Programmierer_innen zu denken, die eine neue Sprache erschaffen wollen, in der das vorliegende Problem eingetaucht ist; eine Sprache, in der Lösungen für das Problem sowie für eine ganze Klasse von damit vermengten Problemen relativ trivial werden. Xenofeminismus ist eine Plattform, eine junge Ambition des Aufbaus einer neuen Sprache für Geschlechterpolitiken – einer homoikonischen Sprache, die ihre eigenen Methoden zur Überarbeitung heranziehen kann, die sich selbst Stück für Stück in die Existenz bootstrappen kann. Wir verstehen, dass die uns begegnenden Probleme systemisch und miteinander verzahnt sind, und dass jede Chance auf globalen Erfolg darauf basiert, unzählige Fähigkeiten und Kontexte mit der Logik von XF zu infizieren. Unsere Transformation ist eine des sickernden aber gezielten Zusammenrinnens anstelle eines stürmischen Umsturzes; sie ist eine Transformation der gezielten Konstruktion, die danach strebt, das rassistische, kapitalistische Patriarchat mit einem Meer der Verfahren zu überschwemmen, die seine Schale aufweichen und seine Verteidigungsposten auflösen, um dann aus den Resten eine neue Welt zu bauen.

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Xenofeminismus zeigt den Wunsch an, eine fremde Zukunft zu bauen, mit einem triumphierenden X auf einer mobilen Karte. Dieses X ist kein richtungsweisendes Zeichen, sondern die Einfügung eines topologischen Schlüsselbildes für das Schmieden einer neuen Logik. In der Bejahung einer Zukunft, die nicht an die Wiederholung der Gegenwart gebunden ist, kämpfen wir für erweiternde Kapazitäten, für Räume der Freiheit mit einer reicheren Geometrie als dem Seitengang, dem Fließband und dem Feed. Wenn Geometrie implizit unsere äußere Welt strukturiert, unsere Umwelt, dann fordern wir neue perspektivische Bemühungen, die nicht an naturalisierte Identitäten gebunden sind. Im Namen von Feminismus soll «Natur» nicht länger eine Zuflucht für Ungerechtigkeit sein, oder eine Grundlage für irgendeine politische Rechtfertigung!

Wenn die Natur ungerecht ist, müssen wir eben die Natur verändern!

Aus dem Englischen von JS Theodor.

Aus: «dea ex machina» Berlin 2015, www.merve.de